Karbener LiteraturTreff e.V.



Bericht vom Literaturabend, 28. November 2019:
"Walter Benjamin, die mahnende Stimme"



Ort: KUHtelier, Groß Karben, im Schlosshof von Leonhardi
Zeit: 19:30 - 22:00 Uhr
Anwesende: ca. 46 Personen und Pressevertreter

Am letzten Literaturabend in diesem Jahr hatte das Literaturforum Karben e. V. den Denker und Dichter Walter Benjamin im Programm unter dem Titel "Walter Benjamin, die mahnende Stimme". Zwei Künstler, brillant und professionell Nicola Piesch Gesang und Dieter Wierz Piano sorgten für die musikalische Begleitung.

Der erste Vorsitzende Dieter Körber begrüßte die Gäste und übernahm die Moderation des Abends, den er auch organisiert und gestaltet hatte. In seiner Begrüßung erklärte Körber, dass man auf das Vortragen von Lebensdaten Benjamins verzichten wolle und deshalb trotz des Zeitalters der elektronischen Verständigung in der Pause schriftliche Lebensläufe von Benjamin verteilt würden. Das Programm begann mit Musik und Nicola Piesch stimmte die Besucher ein mit dem Song "Irgendwo auf der Welt". In seiner Einführung zum Thema erklärte Dieter Körber Walter Benjamin war zweifellos einer der einflussreichsten Denker in der Geisteswelt der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die Vielfältigkeit seiner Impulse, das kontroverse Potential seiner Texte und die Radikalität seines Denkens entfalten ihre Wirkung bis heute. Es ist eine mahnende Stimme, die uns aus den nachgelassenen Werken Benjamins, so unverbunden sie auch sein mögen, im Jetzt erreicht. Er war Essayist, Kritiker, Übersetzer, gescheiterte Akademiker, Kunsttheoretiker, Geschichtsphilosoph und wurde plötzlich zu einem der am meisten diskutierten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Körber erläuterte den berühmten Kunstwerkaufsatz Benjamins "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" und seinen innewohnenden Begriff der Aura. In seinem Aufsatz zeigt sich Benjamin als weit vorausschauender Denker, der bereits in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Verbanalisierung der Kultur, in Folge der permanenten Verfügbarkeit der Kunstwerke, vorausgesehen hat.

Seine Ausstrahlung wirkt hinein in die Bereiche der Gegenwartsliteratur, der Künste, der Medien und der Publizistik. Benjamin dürfte wohl der qualifizierteste, kompetenteste und stilsicherste Literaturkritiker in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein. Walter Benjamin war Magier der Sprache, er beherrschte die Kunst, seine Leser zu verführen. Um Aufschlüsse über die Gegenwart zu erhalten, wollte er Vergangenes rekonstruieren. Um das heraufziehende 20te Jahrhundert in seiner Streugewalt zu erfassen, wandte er sich dem 19. Jahrhundert zu, um an Vergessenes zu erinnern und es für das Verständnis seiner Zeit aufzubereiten. Seine "Berliner Kindheit" blieb ebenso unvollendet wie das "Passagen-Werk", in dem er die Urgeschichte des 19. Jahrhunderts erzählen wollte. Der Kulminationspunkt des 19. Jahrhunderts dürfte Paris mit seiner lebendigen Geistesvielfalt gewesen sein. So wie der Kulminationspunkt des 20. Jahrhunderts Europa ist.



Als die Musikkünstler, Nicola Piesch und Dieter Wierz das Lied "Die Gedanken sind frei" vortragen findet Körbers Einleitung einen gelungenen Abschluss.

Benjamins Leben ist überschattet von einem ihn begleitenden Versagen und immer, wenn solch ein Unbill ihn traf, hat er ein "Bucklicht Männlein" gesehen. Sehr früh, schon als Kind beim Lesen in dem Kinderbuch, "Aus des Knaben Wunderhorn" hat Benjamin mit dem "Buckligen", wie er ihn nannte, Bekanntschaft gemacht. Barbara Metz liest mit ausgeprägtem Sprachgefühl die Erzählung "Das Bucklichte Männlein" aus der Erzählsammlung "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert".




Das Programm führt dann zu einem ganz anderen Medium, das eine gewaltige Entwicklung genommen hat und die Smartphon-Besitzer von heute können sich kaum noch in die geschilderte Situation hinein denken. Lebhaft und engagiert liest Almut Rose aus der Erzählsammlung "Berliner Kindheit um 1900" die Erzählung "Das Telephon".




Anlehnend an die Ausführungen im Kunstwerkaufsatz, wo Benjamin die Kunstgeschichte an der Polarität zwischen Kultwert und Anschauungswert festmachen möchte, haben wir bei der Architektur eine Kunstform die sowohl Kultwert als auch Anschauungswert besitzt ohne in sich ausschließende Polaritäten zu geraten. Denn Architektur besitz immer auch Kultwert und Anschauungswert, sie ist meist ohne Anschauungswert nicht denkbar. Eine die Architektur bewundernde Erzählung "Loggien" aus der gleichen Sammlung trägt gekonnt Nicola Piesch vor.



Architektur und Interieur sind auch Mittelpunkt einer Liebeserklärung Walter Benjamins an die Stadt, die ihm am Herzen lag und, die sein Exilantenschicksal wurde. Aus der Sammlung "Denkbilder" entnimmt Barbara Metz den Aufsatz "Paris, die Stadt im Spiegel". Barbara Metz liest einfühlsam diese Erzählung. Mit dem wunderschön interpretierten Song "All of me" klingt der erste Teil des Abends aus.





Das Walter Benjamin auch die Lyrik beherrschte war bis Anfang der 80er Jahre wenig bekannt. Nun liegen Sonette vor, die ursprünglich zum Tode des Freundes Heinle verfasst wurden, aber einige Sonette berühren auch freie Themen, Dieter Körber liest gekonnt drei Sonette. Eindrücklich und stimmungsvoll liest Nicola Piesch eine Impression von Musik und Jugend in Berlin "Zwei Blechkapellen".




Metaphernreich und ebenso stimmungsgeladen eine Impression von Berlin und längst vergangenen Zeiten, die Erzählung aus "Berliner Kindheit um 1900" "Tiergarten" wird temperamentvoll von Almut Rose vorgetragen.








Gefühlvoll und bewegend lässt Nicola Piesch mit ihrer schönen Stimme den Song "Autumn leaves" erklingen, kunstvoll begleitet von Dieter Wierz.

Es schließt sich in engagierter Weise Almut Roses Lesung der bildreichen Erzählung "Siegessäule" an. Das Passagen-Werk haben sich Rosi und Hans Kärcher vorgenommen. Es ist ein unvollendetes, philosophisch-literarisches Projekt, an dem Walter Benjamin ab 1927 bis zu seinem Tod 1940 gearbeitet hat. Er entwarf darin eine Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, explizit aus der Sicht des 20. Jahrhunderts, in der Systematik eines historischen Materialismus, verknüpft mit theologischen Momenten. Dies war in den 60er und frühen 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts immer eine große Diskussion ist Benjamin eher dem marxistischen Materialismus oder eher dem religiösen jüdischen Denken verhaftet. Je nach Standpunkt des jeweiligen Diskutanten schlug der Zeiger dann aus, mal ganz nach links, dann wieder eher mittig oder zum Konservativen geneigt. Heute versucht man, dem breit angelegten Denken Benjamins kein solches Korsett mehr zu verpassen. Mit dem Passagenwerk führte er verschiedene Fäden aus seinen früheren Werken zusammen. Die umfangreiche Sammlung in Benjamins Nachlass besteht aus zwei Exposés ("Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts") und mehreren Tausend, thematisch geordneten Notizen, Zitaten und Exzerpten. Sie wurde erstmals 1982 mehr als 40 Jahre nach seinem Tod verlegt. Das Werk gilt als das der bedeutendste Fragment der deutschen Literatur. Aus dem Passagen-Werk lesen in aufmunternder Weise Rosi und Hans Kärcher sehr gut aufeinander abgestimmt Textauszüge.

Manfred Mattner und Hans Kärcher wiederum haben sich ein Hörspiel Benjamins vorgenommen. Benjamin lässt in seinem Rundfunkhörspiel "Lichtenberg" die Erdforscher auf dem Mond auf den historischen Mondforscher Lichtenberg treffen. Mattner und Kärcher lesen engagiert in verteilten Rollen einen Ausschnitt aus der "Mondsituation".





Einen die Trauer Lichtenbergs erhellenden Brief liest Körber. In den letzten 10 Lebensjahren Benjamins dürfte Bert Brecht die wichtigste Person für Benjamin gewesen sein. Benjamin hat seinen Freund Bert Brecht bewundert, obgleich er fast immer eine gegenteilige oder andere Meinung hatte. Aber Brecht fiel all das, was Benjamin schwerfiel, leicht. Die Organisation des Lebens im langjährigen Exil beispielsweise. Benjamins Freitod 1940 hat seinen Freund Bert Brecht bestürzt und er schrieb zu dem Tod Benjamins das Gedicht "Zum Freitod des Flüchtlings W. B.", das Dieter Körber sehr bewegend liest.




Zum Ausklang des Programms singt Nicola Piesch mit ihrer schönen klaren Stimme in einer zu Herzen gehenden dreisprachigen Interpretation den Songs "Sag mir, wo die Blumen sind …" Ein Song, der nicht besser geeignet sein könnte, um einem großen Geist unter den Opfern der deutschen Barbarei würdig zu gedenken.

Dieter Körber bedankt sich bei den Besuchern und den Mitwirkenden für deren besondere Leistungen und wünscht allen einen guten Übergang zum neuen Jahr.

Das Programm im neuen Jahr beginnt am
Donnerstag, 30. Januar 2020,
mit dem spannenden und hoch interessanten Thema
"Dichter und ihre Mütter. Liebe, Macht und Einfluss".
Wie immer im KUHtelier, Programmbeginn um 19:30 Uhr (Einlass um 19:00 Uhr).
im Schlosshof von Leonhardi,
Burg-Gräfenröder-Str. 2, 61184 Groß-Karben,

freier Eintritt, Spenden werden freudig entgegen genommen.


Dieter Körber